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Ich habe genug... Videoprojekt von Alexandra Ranner

Ich habe genug... Videoprojekt von Alexandra Ranner

Das Martyrium des Orpheus

"Aischylos erzählte von Orpheus in der Tragödie "Bassarai", dem zweiten Teil seiner "Lykurgie".
Erhalten sind Fragmente und ein kurzer Bericht des Eratosthenes, Orpheus war aus dem Hades
mit dem Entschluß zurückgekehrt, nunmehr, nachdem er die Welt dort unten gesehen hatte,
Helios als größten Gott zu ehren, nicht mehr Dionysos, Helios aber nannte er Apollo.
Dionysos geriet über seinen Künder, seinen Propheten in heftigen Zorn, rief seine Bassariden,
daß sie Orpheus ergriffen. Sie zerrissen ihn und zerstreuten seine Glieder.
Die Musen aber kamen, sammelten die Glieder und bestatteten sie. Orpheus widerfuhr ein
Martyrium. Ihm widerfuhr ein Gleiches, das Dionysos selbst durch die Titanen geschehen war."
Storch, Wolfgang (Hg.) Mythos ORPHEUS. Reclam Leipzig 1997, darin
Das Martyrium des Orpheus 

"Ein Erzähler wusste hingegen von einem großen, für geheime Riten eingerichteten Initiationshaus
in der makedonischen Stadt Libethra – wohl einem ähnlichen wie jenes, das auf Samothrake
ausgegraben wurde. Dorthin kamen an bestimmten Tagen zu Orpheus die Männer der Thraker
und der Makedonen. Sie pflegten ihre Waffen vor den Türen niederzulegen. Die zürnenden Frauen
griffen die Waffen auf, töteten die Männer, die in ihre Hände fielen, und warfen den zerstückelten
Leib des Weihepriesters Orpheus Glied für Glied in das Meer. Nach dieser Erzählung schwamm
der Kopf des Sängers in die Flussmündung des Meles bei Smyrna hinüber, wo später Homeros,
der Dichter des Trojanischen Krieges, als Sohn des Flussgottes sollte geboren werden.
Dort wurde das Haupt aufgehoben und ein Heroon des Orpheus, später ein Heiligtum, errichtet,
das keine Frau betreten Durfte." (Karl Kerényi Die Mythologie der Griechen Band II:
Die Heroen-Geschichten, darin Orpheus und Eurydike) 

von außen
Man nähert sich der Arbeit Alexandra Ranners von außen. Der Weg geht über mehrere
Ausstellungsräume bis hin zum Objekt des Geschehens, man bleibt jedoch außerhalb.
Der Kasten, das Gehäuse, das Haus, die Hülle simultiert reality, als würde Orpheus tatsächlich
im Wasser treiben. Orpheus?

Orpheus?
Auf dem Video betrachtet man einen im Wasser dahintreibenden, nach oben gerichteten Kopf.
Ein Kopf ohne Rumpf, der die Eingangspassagen des ersten Satzes der Kantate Bachs
"Ich habe genug" singend, schreiend, säuselnd, stammelnd wiedergibt. Gesang und Worte
sind fragmentarisiert.
Bachs Kantate "Ich habe genug" BWV 82 ist die bekannteste aus der Gattung von Werken,
die mit sehnsüchtiger Jenseitsmystik (Text) und bezwingend eindrucksvoller Musik durchdrungen
sind. Die Musik verweist auf Parallelen in der Matthäuspassion ("Erbarme dich...") oder in der
Kantate "Wachet auf, ruft uns die Stimme" (BWV 140) und unterstreicht damit die Bedeutung
und Gewichtung der eigenen Kantate im Hinblick auf die  Auseinandersetzung mit dem Tod als
positiv besetztem Endziel des Lebens ("Ich freue mich auf meinen Tod").

Orpheus?
Das Bild des Rumpflosen wird gleichsam akustisch verstärkt dadurch, dass der
Sänger – a cappella – ohne Begleitung des Orchesters auskommt. Es entsteht ein musikalischer
Torso, die Bachsche Kantaten-herkunft verliert sich, da die Gesangspassagen zunehmend
zusammenhanglos werden und das fragmentarisch-improvisatorische Element in den Vordergrund
rückt. Der Darsteller verwandelt sich so in unseren Augen und Ohren zu Orpheus, dem unglücklich
scheiternden Held: als Menetekel für den scheiternden Künstler von heute? 

Film-Set VI über Das Video-Projekt "Ich habe genug..." von Alexandra Ranner ist der erste
Gastbeitrag für das offene Projekt-Portal medium orfeus 07 von Eberhard Kloke und Markus
Wintersberger und steht im Zentrum der Präsentations-Sets zum Themeneinstieg zu
orfeus 07. 
Eberhard Kloke 2005

Ich habe genug...Videoprojekt von Alexandra Ranner. Installationsfoto