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Diskurs mediumorfeus07
Silberpfeil & Bogen. Animated Gif. Kamptal Eisenbahnbrücke Stiefern 10. Juni 2006
Bitte welcher Orpheus?

Die populärste Episode des Orpheusmythos ist der Verlust der Gattin, gleich zweimal entschwindet
sie ins Totenreich: sie entflieht den Nachstellungen des Aristaios, stürzt und erhält von einer
Schlange den tödlichen Biss; aus dem Totenreich durch die besänftigenden Gesänge des Gatten
befreit, schleudert sie sein Blick zurück, direkt wieder dorthin. Warum verstößt er gegen die Regel?
Warum verändert er, aus dem Totenreich kommend, aus der Vergangenheit in die Gegenwart -
Zukunft Schreitende die Richtung. Ein „Damenopfer“, wie es Klaus Theweleit vermutet oder hat ihn
Prosperina, die Herrscherin der Unterwelt gerufen, wie es Hanns Erich Nossack in seinem Text:
„War es Eurydice?“ beschreibt. Wurde so der Gesang besiegt, mit dem Orpheus den Tod
überwinden wollte?

Der Gesang wurde nicht besiegt, nein er wurde zum Beginn der Operngeschichte. In Monteverdis
L’Orfeo singt im Prolog La Musica höchstpersönlich!


„Ich bin die Musik, die mit lieblichen Tönen
dem verwirrten Herzen Ruhe schenkt.
Bald zu edlem Zorn, bald zur Liebe vermag ich
selbst eiserstarrte Sinne zu entfachen.“


Orpheus, als Symbol für La Musica  war immer in Bewegung, auf Fahrt, nicht zufällig nahm er auf
seiner ersten Reise an der Fahrt der Argonauten teil. Nicht als Krieger, als Mann der Tat, als Held
sondern als Mittler zwischen verschiedenen Lebensformen und Zivilisationen, als einer der die
Visionen nach dem „goldenen Vlies“ gleichsam mit seinem Rhythmus, den er für die Ruderer der
Argo anstimmt, vorantreibt. Am Abend der Abfahrt singt er ein kleines Lied über die Entstehung der
Welt, eine Kosmogonie, ein Meditationsritual über das Mysterium des Kosmos, eine Vorbereitung
auf eine Initiation, eine Enthüllung von Geheimnissen und Wahrheiten. Die Fahrt geht nach Osten,
dem Lauf der Sonne entgegengesetzt, also rückwärts, zurück in ein „Vorher“. Etwas aus der Welt
des Jenseits soll für die Welt der Sterblichen zurückerobert werden. Sein Gesang besänftigt die
Streitenden, beschleunigt die Fahrt durch die Symplegaden, die wandernden Felsen, übertönt den
Gesang der Sirenen.

Haben ihn auf der ersten Reise Visionen begleitet, hat er auf der zweiten die Unterwelt singend
bezwungen und die Frauen, die Geliebte hinter sich gelassen, so gelangt er auf seiner dritten Reise
zu seinen Ursprüngen zurück. Das orphische Mysterium weiß um die Einheit der Gegensätze,
apollinisches und dionysisches bringen im Verhältnis ihrer Polarität eine Steigerung. Von den
„Weibern“ in Stücke zerrissen wird sein Kopf an die Leier genagelt und ins Meer geworfen, sein
Haupt schwimmt singend und die Leier tönt. Das Schöpferische behauptet sich gegen die leibliche
Zerstückelung. Ein für alle Male / ists Orpheus, wenn es singt, wird Rainer Maria Rilke in den
Sonetten an Orpheus sagen.

Die Macht seiner Musik steht für die magische Macht der Musen im Orakel, die sich Natur,
Menschen, Tiere und Pflanzen gefügig macht. Das Orakel als Widerhall des Rauschens aus dem
Resonanzkörper der Erde. Als Ort an dem das Wort, der Gesang sich ereignen - die Keimzelle des
Mythos.

Mythos beschreibt das Andere, ist zeitlich und räumlich distanziert, wird immer weiter erzählt,
variiert, kann Themen verbinden, in einer Metaebene darstellen. Der Blick ist rückwärts gewandt,
in ihm finden sich Entstehungsgeschichten, er verhüllt ein ursprüngliches Geschehen, bedient sich
der metaphorischen Sprache, der Bildsprache, auch der Tonsprache. Der Erzählstrom der
Geschichte, die psychischen Inhalte, das Ungeklärte, noch nicht Aufgeklärte, vor dem Logos,
überlagert sich, durchdringt, wird ineinander geblendet, verdichtet sich.

Petra Strasser, Freiburg, Februar 2006
Salamander. Animated Gif. ARCHE NOAH Schiltern 24. Juni 2006