Wien / Berlin © 2007
Diskurs mediumorfeus07
Bildzitat aus: Die Weisse Woche. Ein Bilderbuch von Güte, Liebe und Menschlichkeit. Max Ernst, 1910
Orfeus im Stalinismus

Schostakowitsch im Jubiläumsjahr – Missverhältnis und Missverständnis!

Eberhard Kloke, Berlin im März 2006


Untersucht man die Programme der diesjährigen Schostakowitsch-Jubiläen, fällt erneut auf,
dass man sich darauf beschränkt, die gängigen Programmschemata für Musik und Werke
Schostakowitschs anzuwenden. Eine mögliche Neuentdeckung kann jedoch ohne Neubewertung
der historischen, politischen Kontexte nicht geschehen. Es nützt weder dem Werk noch dem
Ansehen seines Autors, wenn der Musikbetrieb sich einen Komponisten der sogenannten
"gemäßigten" Moderne unter falschen Voraussetzungen vereinnahmt. Eine Neuentdeckung von
Schostakowitsch hat eben weder mit jubiläumstechnischen oder programmaktualisierenden
Maßnahmen am Werk oder mit der üblicherweise verspäteten Vereinnahmung durch den
Musikbetrieb ("posthum") zu tun, als mit der Erkenntnis, Werk und politische Implikationen in
noch engerem Bezug sehen und hören zu müssen.

Untersucht werden müsste die zentrale Frage nach Veränderungsprozessen in der Innen-
und Außenwelt eines Menschen (Komponisten), die Frage nach individuellen, persönlichen
und künstlerischen Antworten auf (mehrfach!) politisch herbeigeführten, radikalen
Strukturwandel. Heutige Sinne dafür zu schärfen, die sogenannte zweite Ebene der
Musiksprache Schostakowitschs zu hören und zu begreifen und auf andere, heutige Musik
und deren politische Implikationen zu übertragen, wäre das eigentliche Ziel eines
neuerlichen Schostakowitsch-Rezeptions-Schubs.