Wien / Berlin © 2007
Diskurs mediumorfeus07
Todesmetapher 2
Alanus ab Insulis
Alanus ab Insulis

Alain de Lille. Geboren um 1120 in Lille, gestorben 1203 in Citeaux.
Zisterziense; Theologe, Naturkundiger und Dichter. Hauptwerke: Anticlaudianus,
De plantu naturae, De fide catholica contra haereticos, Ais praedicandi. 


Der metaphorische Charakter der Dinge (Sequenz der Rose)
Omnis mundi creatura
quasi liber et pictura
nobis est, et speculum.
Nostrae vitae, nostrae mortis,
nostri status, nostrae sortis
fidele signaculum.

Nostrum statum pingit rosa,
nostri status decens glosa,
nostrae vitae lectio.
Quae dum primo floret,
defloratus flos effloret
vespertino senio.

Ergo spirans flos exspirat
in pallorem dum delirat,
oriendo moriens.
Simul vetus et novella,
simul senex et puella
rosa marcet oriens.

Sic aetatis ver humanae
juventutis primo
mane / reflorescit paululum.
Mane tamen hoc
excludit / vitae vesper, dum concludit
vitale crepusculum.
Cujus decor dum perorat
ejus decus mox deflorat
aetas in qua defluit.
Die Geschöpfe dieser Erde
sind ein Buch und ein Gemälde
und ein Spiegel unsres Seins.
Unserm Leben, unserm Sterben,
unsrer Lage, unserm Lose
können Sie ein Zeichen sein.

Unsern Zustand zeigt die Rose,
klar beschreibt sie unsre Lage,
unser Leben stellt sie dar.
Die am frühen Morgen blühet,
kaum erblüht verblüht die Blüte,
wenn am Abend alles welkt.

Taufrisch siecht dahin die Blüte,
wenn sie blaß in Fieberschauern
im Erblühen schon vergeht.
Alt und jung zur gleichen Stunde,
Greis und Kind in gleichem Maße,
welkt die Rose im Erblühn.

Auch des Menschen Lebensfrühling
und der Jugend erster Morgen
blüht für eine kurze Zeit.
Doch im Lebensabend endet
dieser Morgen, und bald naht sich
jedes Lebens Dämmerung.
Noch eh‘ aller Glanz entfaltet
ist die Schönheit schon vorüber,
und die Zeit fließt drüber hin.