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Diskurs mediumorfeus07
Marcel Duchamp: Springbrunnen, 1917. Ready-made. Urinoir aus Sanitärporzellan. Replik 1964
Was ist Kunst?

Florian Rötzer 10.01.2006

Künstler beschädigt Duchamps Urinoir, oder: Warum Kunst und Kunst ganz unterschiedliche
Dinge sein können, aber sie vor allem doch ein Kirchenersatz bleibt

Das industriell gefertigte Urinoir mit dem Namen "Fontaine", das Marcel Duchmap 1917 unter dem
Pseudonym Richard Mutt zur ersten Ausstellung der neu gegründeten Society of Independent
Artists in New York einreichte, bei der er selbst Mitglied war, hat Geschichte gemacht und ist zum
Gegenstand unzähliger Nachahmungen und Überlegungen zur Umwertung des Kunstbegriffs
geworden. Mindestens seitdem ist die Provokation oder Beantwortung der Frage, was ein
Kunstwerk ist, zum Grundbestand der Kunst geworden, die gleichzeitig ihre Begrenzung verloren
hat. Obgleich das Readymade hier gar nicht ausgestellt wurde und Duchamp bereits andere zuvor
zum Kunstwerk getauft hatte, ist es zum Gründungsobjekt der Konzeptkunst und zum wohl
bekanntesten Fetisch der modernen Kunst geworden.

Kann man Werke machen, die nicht Kunst sind? Marcel Duchamp 1913

Am 4. Januar ist der 77-jährige Pierre Pinoncelli in die heute zu Ende gehende Dada-
Ausstellung des Centre Pompidou gegangen, die von 350.000 Menschen besucht wurde und daher
offenbar Bedeutsames zeigte. Bei sich hatte er einen kleinen Hammer. Ziel seines Besuchs war
das auf einem Sockel präsentierte, auf dem Rücken liegende und von Duchamp signierte Urinoir,
das er angeblich - wie seine anderen Readymades - ganz ohne Rücksicht auf ästhetische Kriterien
ausgewählt hatte.

Pinoncelli versteht sich als Künstler, als Konzeptkünstler, also als Kollege von Duchamp.
An Duchamps Urinoir, also am Alter eines sonst eher mit leichtem Ekel betrachteten
Alltagsgegenstands, das zum auratischen Kunstobjekt durch die Taufe eines sich als Künstler
verstehenden Mannes erklärt wurde, wollte der Nachfahre Duchamps eine Kunstperformance
ausführen. Und das hat er auch  geschafft (2): Er konnte mit seinem Hammer bis zum Kunstwerk
vordringen und es leicht beschädigen. Allerdings wurde Pinoncelli deswegen nicht als Künstler
gefeiert, sondern von der Polizei abgeführt. Obwohl er doch gerade dem Kunstwerk seine Reverenz
erwiesen hat.

Dies war nicht der Akt eines Künstlers, sondern eines Nicht-Künstlers ... Ich wünschte, den
Status des Künstlers zu ändern, die zur Definition eines Künstlers benutzt werden.

Marcel Duchamp über die Herstellung von Readymades

Dem Objekt seines Begehrens hatte der Künstler, der hier zum Kriminellen wurde, schon einmal
seine Verehrung erwiesen. 1993 beging er während einer Ausstellung in Nimes bereits einen
Anschlag mit einem Hammer, um gegen den Kunstmarkt zu protestieren, aber er "entweihte" das
Readymade auch insofern, als er es wieder seinem eigentlichem Zweck als Urinoir zuführte:
r pisste nämlich hinein, was angeblich dessen "wirklichen Wert" wiederherstellen sollte.
Auch damals hatte der Künstler keinen Erfolg mit seiner Kunstaktion, die das umgetaufte Objekt
noch einmal buchstäblich umtaufte und damit eine neue Reflexionsebene der Konzeptkunst
erklomm. Es wurde nicht das beschädigte und bepisste Urinoir als Gemeinschaftswerk von
Duchamp und Pinoncelli ausgestellt, sondern letzterer wurde zu einer Haftstrafe von einem Monat
und zu einer erheblichen Geldstrafe verurteilt.

Zuletzt war Pierre Pinoncelli mit einer schmerzhaften Performance aufgefallen. 2002 hatte er sich
mit einer Axt im kolumbianischen Cali die Kuppe seines kleinen Fingers der linken Hand abgehackt
- um an die kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt zu erinnern, die einige
Monate zuvor von FARC-Rebellen entführt worden war und von diesen weiterhin festgehalten wird
(Angst gehört hier zur Politik (3)). Pinoncelli liebte schon immer das Spektakuläre, die dadaistische
Aufmerksamkeitskunst, wie sie von Duchamp freilich auf etwas subtilere Weise betrieben wurde.
So besprühte er etwa 1969 den damaligen französischen Kultusminister André Malraux in einer
Chagall-Ausstellung mit roter Farbe mittels mit einer Wasserpistole. Eigentlich ein harmloser
Anschlag. Aber er hat sich auch schon mal seine Kleider auf offener Straße angezündet, fingierte
mit einem Gewehr einen Banküberfall oder ließ sich verschnürt und mit Gewichten im Hafen von
Nizza ins Wasser werfen.

Einer erneuten Aneignung des angeeigneten Alltagsgegenstandes wird also mit dem Recht und
der Kriminalisierung begegnet. Ist die Umtaufe zu einem Fetischobjekt einmal vollzogen und
anerkannt, der Gegenstand als Kunstobjekt also zu einer besonderen Ware geworden, der man
erhöhte Aufmerksamkeit und damit einen erhöhten Wert zuspricht, treten die Prinzipien in Kraft,
mit denen einmalige Objekte als Kunstwerke geschützt, gehandelt und verehrt werden. Und zwar
eigentlich im Gegensatz zu Duchamps selbst, der sagte, dass es ihm dann, wenn seine "Werke
ohne Kunst" dennoch als Kunstwerke verehrt werden, wohl nicht gelungen sei, "das Problem der
völligen Beseitigung von Kunst zu lösen".

Meine Ansicht ist die, dass ein Kunstwerk sehr viele Eigenschaften hat, ja sogar sehr viele,
die von ganz anderer Art sind als die Eigenschaften jener materiellen Objekte, die von ihm zwar
ununterscheidbar, aber selbst keine Kunstwerke sind. Einige dieser Eigenschaften können sehr
wohl ästhetische sein oder solche, die man als ästhetische erlebt oder als "würdig und wertvoll"
erachten kann. Um dann aber ästhetisch auf sie reagieren zu können, muss man zuerst wissen,
dass das Objekt ein Kunstwerk ist, und somit ist die Unterscheidung zwischen dem, was Kunst ist,
und was nicht, vorausgesetzt, bevor eine unterschiedliche Reaktion auf diesen Unterschied in der
Identität möglich ist.
Arthur Danto

Nun muss man allerdings wissen, dass Pinoncelli schon 1993 nicht in das ursprüngliche "Original"-
Urinoir von 1917 gepisst hatte. Das ist nämlich verloren gegangen und existierte lange Zeit nur in
Form einer Fotografie von Alfred Stieglitz. Obwohl Duchamp ja angeblich mit den Readymades
kein Kunstwerk schaffen wollte, hatte er ziemlich schnell beschlossen, nicht allzu viele
Gegenstände aus der Banalität des Gewöhnlichen zu heben. Das wäre natürlich eine Banalisierung
des außergewöhnlichen Aktes gewesen, einen verbreiteten Alltagsgegenstand zu einem seltenen
Kunstwerk zu erklären.

1964 wurden auf jeden Fall acht Repliken des "Fontaine"-Urinoirs hergestellt, mit Billigung des
Spielerkünstlers Duchamp. Sie wurden erst durch seine Weihung, also durch ganz konventionelle
Signierung zu eben jenen Kunstwerken, die man nur fälschlicherweise "verehrt", also als Kunstwerk
ausstellt und hütet und bebrütet. Just so ein Urinoir hat nun Pinoncelli in den heiligen Kunsthallen
geschändet. Würde eigentlich gar nichts machen, ginge man nach Duchamp, der sagte:

Ein weiterer Aspekt des Readymade ist, das es nichts Einzigartiges besitzt ...
Die Replik eines Readymade übermittelt dieselbe Botschaft; tatsächlich sind fast alle heute
existierenden Readymades keine Originale im eigentlichen Wortsinn.
Marcel Duchamp

Wäre da nicht die Signatur, könnte man demnach ohne Probleme ein Urinoir durch ein anderes
ersetzen. Aber jetzt muss die Replik restauriert werden, weil sie doch ein Unikat ist. Man könnte ja
auch die Unterschrift fälschen, Duchmap hätte konsequenterweise einen Stempel machen müssen,
zumal er natürlich wieder mit dem Pseudonym R. Mutt und mit der (falschen) Jahresangabe 1917
unterschrieben hat. Andererseits heißt es, dass die Repliken unter der Aufsicht von Duchamp
selbst von der Galerie Schwarz hergestellt wurden, also gleich als "Kunstwerk", wenn auch als
"Kopie", was aber nach Duchamp, den Täufer, nichts ausmacht, da irgendwie immer, auch bei
Anti-Kunst, Kunst herauskommt. Aber so ist die Welt der Kunst: dunkel, geheimnisvoll, verspielt
und oft unverständlich. Eine Sache für Liebhaber und Naive, die nach dem Heiligen im Profanen
suchen und ihre Priester finden.

(1) http://membres.lycos.fr/pinoncelli/

(2) http://permanent.nouvelobs.com/culture/20060105.OBS1039.html

(3) http://www.telepolis.de/r4/artikel/13/13793/1.html

Telepolis Artikel-URL: http://www.telepolis.de/r4/artikel/21/21745/1.html

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Non ! Réalisation : Se couper un doigt pour affirmer son opposition. Attribué à : Pierre Pinoncelli