Wien / Berlin © 2007
Diskurs mediumorfeus07
Bildzitat aus: Die Weisse Woche. Ein Bilderbuch von Güte, Liebe und Menschlichkeit. Max Ernst, 1910
Chaos statt Musik ("Prawda"-Artikel, 28. Januar 1936)

 - deutsche Übersetzung -

Im Zusammenhang mit dem Wachstum der Kultur in unserem Lande hat das Bedürfnis nach guter
Musik zugenommen. Niemals und nirgendwo haben die Komponisten so ein dankbares Publikum
gehabt. Die Volksmassen erwarten schöne Lieder, aber zugleich auch gute Instrumentalwerke und
Opern. Manche Theater servieren dem sowjetischen Publikum, das höhere kulturelle Ansprüche
stellt, D. Schostakowitschs Oper "Lady Macbeth von MzensK"  als etwas neues, als eine große
Errungenschaft. Eine diensteifrige Musikkritik hebt diese Oper in den Himmel und überschüttet sie
lärmend mit Ruhm. Statt einer sachlichen und ernsthaften Kritik, die ihm in seiner weiteren Arbeit
von Nutzen sein könnte, bekommt der junge Komponist nur enthusiastische Komplimente zu
hören. Von der ersten Minute an verblüfft den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische,
chaotische Flut von Tönen. Bruchstücke von Melodien, Keime einer musikalischen Phrase
versinken, reißen sich los und tauchen erneut unter im Gepolter, Geprassel und Gekreisch.
Dieser "Musik" zu folgen, ist schwer, sie sich einzuprägen, unmöglich. Das gilt für fast die ganze
Oper. Auf der Bühne wird der Gesang durch Geschrei ersetzt. Gerät der Komponist gelegentlich in
die Bahn einer einfachen und verständlichen Melodie, so stürzt er sich sofort wieder, als wäre er
erschrocken über ein solches Unglück, in das Labyrinth des musikalischen Chaos, das stellen-
weise zur Kakophonie wird. Die Ausdruckskraft, die der Hörer erwartet, wird durch einen wahn-
witzigen Rhythmus ersetzt. Durch musikalischen Lärm soll Leidenschaft zum Ausdruck kommen.
Der Grund für all das liegt nicht in der mangelnden Begabung des Komponisten, nicht in seinem
Unvermögen, einfache und starke Gefühle in der Musik auszudrücken. Diese absichtlich
"verdrehte" Musik ist so beschaffen, daß in ihr nichts mehr an die klassische Opernmusik erinnert
und sie mit sinfonischen Klängen, mit der einfachen, allgemeinverständlichen Sprache der Musik
nichts mehr gemein hat. Das ist eine Musik, die nach dem gleichen Prinzip der Negierung der Oper
aufgebaut ist, nach dem die "linke" Kunst überhaupt im Theater die Einfachheit, den Realismus,
die Verständlichkeit der Gestalt, den natürlichen Klang des Wortes negiert. Diese Musik kommt
einer Übertragung der noch um ein Vielfaches  gesteigerten negativen Züge des Meyerholdschen
Theaters auf die Oper gleich. Das ist "linke" Zügellosigkeit an Stelle einer natürlichen,
menschlichen Musik. Die Fähigkeit guter Musik, die Massen mitzureißen, wird hier kleinbürger-
lichen, formalistischen Anstrengungen und der Verkrampfung geopfert, damit man mit den
Methoden der Originalitätshascherei Originalität vortäuschen kann. Dies ist ein Spiel mit ernst-
haften Dingen, das übel ausgehen kann.

Die Gefahr einer solchen Richtung in der Sowjetmusik liegt klar auf der Hand. Die "linke" Entartung
in der Oper hat den gleichen Ursprung wie die "linke" Entartung in der Malerei, der Dichtung, der
Pädagogik und der Wissenschaft. Das kleinbürgerliche "Neuerertum" führt zur Loslösung von der
wahren Kunst, der wahren Wissenschaft und der wahren Literatur.

Der Komponist der "Lady Macbeth von Mzensk" musste die nervöse, verkrampfte, epileptische
Musik des Jazz entlehnen, um seinen Helden Leidenschaft zu verleihen.

Während sich unsere Kritik - und damit auch di e Musikkritik -  vor dem Sozialistischen Realismus
verneigt, setzt uns die Bühne mit Schostakowitschs Werk gröbsten Naturalismus vor. Die Kauf-
leute und das Volk – alle werden stumpf und grausam dargestellt. Die Kaufmannsfrau , die durch
Mord Reichtum und macht gewinnt, wird als ein Opfer der bürgerlichen Gesellschaft vorgestellt.
Leskows Geschichte bekommt eine Sinnlichkeit, die sie eigentlich nicht hat.

Und das ist alles grob, primitiv und vulgär. Die Musik ächzt ind stöhnt, keucht und gerät außer
Atem, um die Liebesszenen möglichst natürlich darzustellen. Und die "Liebe" wird in der ganzen
Oper in der vulgärsten Weise breitgetreten. Das Doppelbett des Kaufmanns steht als Mittelpunkt
auf der Bühne. Auf dem Bett werden alle "Probleme" gelöst. Jm selben grob naturalistischen Stil
wird auch der Tod durch Vergiften gezeigt, ebenso die Prügelszene.

Der Komponist hat sich offensichtlich nicht die Aufgabe gestellt, dem Gehör zu schenken,
was die sowjetischen Opernbesucher von der Musik erwarten und in ihr suchen. Als hätte er
bewusst seine Musik chiffriert, alle Töne in ihr so durcheinandergebracht, dass sie nur für
Ästheten und Formalisten, die ihren gesunden Geschmack verloren haben, genießbar bleibt.
Er ignoriert die Forderung der sowjetischen Kultur, Grobheit und Primitivität aus allen Bereichen
des sowjetischen Lebens zu verbannen. Diese Lobpreisung kaufmännischer Wollüstigkeit
bezeichnen einige Kritiker als Satire. Hier kann in keiner Weise von Satire die rede sein. Mit allen
Mitteln sowohl der musikalischen als auch der dramatischen Ausdrucksfähigkeit ist der Autor
bestrebt, die Sympathien des Publikums für die groben und vulgären Bestrebungen und Taten der
Kaufmannsfrau Katerina lsmailowa zu gewinnen. "Lady Macbeth" erfreut sich eines großen
Erfolges bei der ausländischen Bourgeoisie. Vielleicht wird die Oper gelobt, weil sie so absolut
unpolitisch und verwirrend ist. Lässt sich das nicht damit erklären, dass diese zappelige,
kreischende, neurotische Musik den perversen Geschmack der Bourgeoisie kitzelt?
Unsere Theater wandten nicht wenig Arbeit darauf, um die Oper von Schostakowitsch sorgfältig in
Szene zu setzen. Die Darsteller zeigen bedeutendes Talent in der Überwindung des Lärms, des
Schreiens und des Kreischens des Orchesters. Durch dramatisches Spiel versuchen sie, die
melodische Dürftigkeit der Oper auszugleichen. Leider treten dadurch ihre grob-naturalistischen
Eigenschaften nur noch klarer hervor. Das talentierte Spiel verdient Anerkennung, die veraus-
gabten Kräfte - Bedauern.
Bildzitat aus: Die Weisse Woche. Ein Bilderbuch von Güte, Liebe und Menschlichkeit. Max Ernst
Aus Alban Bergs "Wozzeck", Predigt. Stimme: Patrick Schramm